Das Blau des Himmels
Es war einmal vor langer, langer Zeit, da lebte ein Schäfer mit
Namen Jörgen. Jeder mochte ihn leiden, niemand konnte ein
böses Wort über ihn sagen, selbst seine Schäfchen nicht.
Keines bevorzugte er, jedes war ihm gleich lieb und stets trieb er
seine
Herde auf die besten und saftigsten Wiesen. Dabei gedachte er auch der
Pflanzen des Waldes und der Wiesen mit dem selben Respekt, den er
Menschen und Tieren gegenüber walten ließ. Niemals
hätte er eine Pflanze nur aus einer Laune heraus gepflückt.
War er jedoch aus gesundheitlichen Gründen in der Notlage, sich
einer Pflanze bedienen zu müssen , so entschuldigte er sich zuvor
bei Kraut, Blüte oder Wurzel und genoss ihre Medizin voller
Dankbarkeit. Doch eines Tages fühlte er in sich eine Krankheit,
von der ihn keine Pflanze, kein Arzt der Welt heilen konnte. Gerne
wäre er bis zum letzten Tag mit seiner Herde gezogen, doch seine
Kräfte nahmen so sehr ab, dass das Hüten der Schafe für
ihn unmöglich wurde. Die Bewohner seines Heimatortes gaben ihm
eine einfache, aber saubere Hütte zum Dank für seine Dienste
als Geschenk. So verabschiedete sich Jörgen von jedem
einzelnen Schaf, dankte ihm für die wunderschöne Zeit der
Wanderung und bezog sein neues Zuhause. Der Winter kam, ein
Frühling folgte. Des Schäfers Zustand verschlimmerte sich
sehr, mühsam wurde der Gang nach draußen an die frische
Luft. Auf einem seiner kurzen und anstrengenden Spaziergänge traf
er auf den schönsten und größten Löwenzahn, den er
je gesehen hatte. " Löwenzahn", sagte Jörgen, " Sieh mich an!
Mir geht es nicht gut. Ach gib mir doch von deinen Blättern zur
Linderung meiner Beschwerden." Der Löwenzahn sagte nicht nein,
sondern riet vielmehr dem Kranken jeden Tag von ihm zu
kosten. Dankbar nahm der Schäfer das Angebot an und
mit jedem Tag fühlte er sich besser und mit jedem Tag kam der
Sommer näher. Nun konnte Jörgen die
Löwenzahnblätter nicht mehr essen, denn die Pflanze bekam
eine wunderschöne gelbe Blüte. Aber es dauerte ihn nicht.
Allein die Freude, den Löwenzahn und sein leuchtendes Gelb, zu
sehen
ließ ihn jeden Tag seinen Zustand vergessen. Die Gesetze der
Natur besagen, dass dem Frühjahr der Sommer zu folgen hat, und sie
besagen auch ,dass das Ende des Sommers der Beginn des Herbstes ist. So
geschah es. Aus der herrlichen Blüte wurde eine ebenso
herrliche und einzigartige Pusteblume. Der Weg zum Löwenzahn wurde
für Jörgen, dessen Gesundheit sich wieder verschlechtert
hatte, so anstrengend, dass er beschloss, die Pflanze ein letztes Mal
aufzusuchen und sich von ihr zu verabschieden. " Ach Löwenzahn!"
seufzte er," Ich habe dich sehr liebgewonnen, doch nun heißt es
Abschiednehmen. Ich werde bald sterben." Traurig antwortete die
Pflanze:" Lieber Schäfer! Für uns alle kommt die Zeit des
Welkens auch ich fühle mein Ende nahen. Das, was meinen
Lebensabend
mit großem Kummer erfüllt, ist, dass meine Kinder, die
Samenkörner, sich noch nicht auf ihren Weg in die weite Welt
begeben konnten. Sie werden wohl mit mir enden müssen, denn
Gevatter Wind hat uns im Stich gelassen . So kann mein Samen
nicht fliegen und hier auf der Erde können sie nicht mehr
gedeihen, auch meine Wurzeln bekommen schon lange nicht mehr genug zum
Leben." "Lass mich dein Wind sein, und sei es der letzte
Atemstoß meines Lebens, geliebter Löwenzahn. Im
Frühjahr
gabst du mir deine Heilkraft, im Sommer erfreute mich das Gelb deiner
Blüte so sehr und nun lasse mich an der Reise deiner Kinder
teilhaben!", entgegnete Jörgen. Zwar sträubte sich der
Löwenzahn sehr dagegen, denn er wußte diese Anstrengung
würde die Letzte des Schäfers sein, doch alles wehren half
nichts. Jörgen beugte sich so tief hinab wie es nur möglich
war und pustete was seine Lungen hergaben. Dann geschah ein
Wunder. Der Schäfer fiel nach vorne und klammerte sich dabei an
dem Löwenzahn fest. Ein Samenkorn klammerte sich so sehr an seiner
Mutter Blüte fest, dass der Wind Samenkorn, Pflanze und
Jörgen in die Lüfte bis hin zum Himmel trug. Da staunten die
Drei aber sehr. So kam es, dass der Schäfer nun die
Schäfchenwolken hüten durfte. Auf seinem Hut wächst der
Löwenzahn, man hatte die beiden nicht trennen wollen. Manchmal
kommen die Engelein vorbei und reiten auf den Wolken. Dann muss
der Schäfer immer und immer wieder die Geschichte erzählen,
wie er zum Himmel hereingeflogen kam. Am liebsten haben die Engelchen
die Stelle, an der er so mächtig pustet: Dann springen die
Wolkenschäfchen und mit ihnen ihre kleinen Reiter im wilden Galopp
auseinander und der Jörgen muss sie wieder zusammentreiben, aber
das macht ihm nichts. Auf Erden bewundern dann die Menschen zur selben
Zeit das Blau des Himmels und stellen erstaunt fest, dass keine Wolke
am Himmel zu sehen ist. Nur noch die ganz, ganz Alten sagen dann, dass
der Jörgen wieder am Hüten sei. Und wenn er nicht gestorben
ist, so hütet er noch heute.