Mein letztes Spiel




Eigentlich ist es wie immer. In aller Frühe setzte ich mich in Saarburg in den Zug mit dem Wissen, dass ich wenige Stunden später auf einer Welle  von Gleichgesinnten alles um mich vergessen und für 90 Minuten in eine andere Welt eintauchen werde. Un d doch ist dieser 19. März 2005 etwas ganz besonderes. Ein wehmütiger Tag, irgendwie- einer jener Tage, an denen man ganz bewusst und sentimentaler als sonst ein Ereignis in sich aufnimmt.

Während sich der ICE ab Mannheim seinem Endziel entgegenschlängelt, habe ich endlich die Ruhe gefunden mein Gedanken zu ordnen. Wie war das noch mal, als ich zum ersten Mal das Ereignis aufsuchte, dem ich nun erneut entgegenfiebere? Es war im August 1985, als ich mich mit einigen Freunden auf den Weg in die bayrische Metropole machte. Ein guter Kumpel hatte in München eine Arbeitstelle gefunden und er hatte uns junge Burschen eingeladen einige Tage mit und bei ihm zu verbringen. Es war damals alles so aufregend, die Tage vergingen im Fluge. Viel zu schnell! Es war damals sowieso eine unbeschwerte Zeit, einie Zeit in dern man noch versuchente die Welt zu erobern.

Am dritten Tag unseres Aufenthaltes saßen wir beim Frühstück und machten Vorschläge wie sir unseren letzten Uralubstag gestalten könnten. Ich war nicht richtig bei der Sache, war in eine Tageszeit vertieft- Sportteil.
" Was meinst du denn?", sprach man mich an. Ich sah auf, räusperte mich und zeigte auf die Schlagzeile die ich gerade am lesen war.
" Willst du uns etwa zum Fußball schleppen?", rief jemand entsetzt in die Runde und ich spürte, dass mein Überzeugungsplan zu scheiertn drohte und damit überarbeitet werden musste. Ich spielte einen Trumpf aus der stechen musste: Olympiastadion! Das Münchener Olympiastadion! Diese Ausflugsziel überzeugte, denn tatsächlich nahmen wir wenige Stunden später auf einem grünen Schalensitz unter dem riesigen Zeltdach Platz. Und damit ging es für mich ein Traum in Erfüllung! Als Schüler hatte bei uns der coole Spruch kursiert: " Einmal Genesis sehen und sterbe!" In Umwandlung dieses Spruches über die Rockband gab es für mich ein anderes Ziel: Den FC Bayern München sehen! Live im Stadion. Wie oft hatte ich das überdimensionale Poster in meinem Jugendzimmer Anfang der 70er bestaunt: Es zeigte Franz Beckenbauer mit dem Ball am Fuß, stolz wie ein General an einigen Wuppertalern Verteidigern vorbei defilierend, so als seien sie immobile Zinnsoldaten. Und im Hintergrund des Posters war jenes Zeltdach zu erkennen, unter dem ich an diesem letzten Urlaubstag saß, auf einem dieser grünen Schalensitze. Einmal dort Platz nehmen, einmal Franz und den genialen Gerd Müller sehen, und weiter hinten, im Tor, den blauen Farbtupfer Sepp Maier erleben. Einmal nur, so war mein Wunsch gewesen, seit den Tagen des Posters an meiner Wand.
An diesem heißen Augustsamstag 1985, als sich dieser Traum endlich erfüllte, aber waren meine Idole längst von anderen Helden abgelöst worden. Eine neue Gerneration war herangewachsen, aber diese Spieler liebte ich genauso. Ja, so war das! Meine Begleiter hatten keine Ahnung, was mir dieser Nachmittag bedeutete. 4:1 gewannen die Bayern in einem legendären ersten Spiel, auch an den Gegner kann ich mich ganz genau erinner. Es war der VfB Stuttgart. Beim Verlassen des Stadions nahm ich mir vor zurückzukommen. Nur noch einmal? Nein: Noch viele Male. Immer wieder. So war das, im Sommer 1985.

Ich bin wieder in der Gegenwart. 20 Jahre später, und ich sitze im ICE nach München! Meine Güte, wo ist nur die Zeit hingegangen. Es ist, als sei es gestern gewesen, wie sonst könnte ich mich an meinen ersten Besuch im Olympiastadion so detailliert erinnern? Es folgten noch unzählige. Zunächst unregelmäßig, dann, ab Mitte der 90er Jahre, mindestens einmal pro Spielsaison. Und dann, im neuen Jahrtausend, bis zu 4 Mal im Jahr. Doch heute, am 19. März 2005, ist alles anders. Heute werde ich, das wird mir spätestens klar als der Zug in Richtung Pasing einrollt und dann am bekannten und lieb gewonnene Panorama vorbei Richtung Innenstadt steuert, zum letzten Mal die Bayern im Olympiastadion sehen! In einigen Monaten wird die Allianz-Arena draußen in Fröttmaning bezugsfertig sein. Ach, ich kann mich mit diesem Gedanken einfach nicht anfreunden. 20 Jahre liebe Gewohnheit kann ich sentimentaler Bursche nicht einfach abschüttlen.

Und dann ist es doch fast wie immer: Der Marsch vom U-Bahnhof durch die Grünanlage des Olympiaparks inmitten der gutgelaunten und erwartungsvollen Fußballanhänger in rot-weiß und mit bayrischem Zungenschlag. Vorbei an der Olypiahalle, am Schwimmstadion. Ich nehme diesen Moment ganz bewußt wahr, jeden Pflasterstein scheine ich mir einzuprägen. Da, um die Ecke, da steht doch immer der Brez`n-Verkäufer mit dem seltsamen Schnauzbart. Er ist tatsächlich da, ich fasse es nicht! Zum ersten Mal lächele ich. Als ich dann im Stadion bin, blicke ich wieder auf zum Zeltdach. Für mich der schönste Blick der Welt! Ich bin wieder zu Hause.

Dann sind alle Sentimentalitäten vergessen, denn ich lasse mich mit dem Spielgeschehen treiben. Fiebere mit, hoffe, bange, ärgere mich, freue mich. Kaue Nägel, raufe mir die Haare, springe auf. Emotionen die ich mag. Hansa Rostock heißt der Gegner, eine graue Maus der Bundesliga. Und dementsprechend erinnerungswürdig ist dann auch das Spiel. Die Bayern beherrschen den Gegner, begnügen sich aber damit ihn lediglich- wie die Fußballer sagen- im Sack zu halten, statt diesen zuzuschnüren. So bleibt es wenigstens spannend, immerhin. 3:1 gewinnen "wir" das Spiel. als dieBegegnung abgepfiffen ist, freue ich mich auf die lieb gewordenen und gewohnten Rituale:
" Stern des Südens" scheppert es aus den Lautsprechern, während sich die Spieler auf der Tartanbahn aufbauen um sich bei den Fans in der Südkurve zu bedanken. Erleichtert bemerke ich, dass ihre Schritte doch schwer sind, die Bewegungen müde, die Trikots doch etwas verschwitzter als sich befürchtet hatte . Ich bleibe auf meinem Platz, bis alle Interviews auf dem Rasen getan, die letzten Nachzügler in den Kabinen verschwunden sind. Als letzter wird Oliver Kahn vom Tunnel verschluckt. Zuvor hat er seine riesigen bunten Handschuhe einigen Buben zugeworfen, die wartend auf ein Souvenir hoffen.Typisch Oli, der Vorzeigeprofi.

Es ist Zeit zu gehen. Die Sentimentalität hat mich wieder gepackt. Den andern Besuchern scheinen solche Gefühle fremd. Sie spüren keine Wehmut, denn immerhin wird der FC Bayern noch vier Heimspiele austragen. Sie werden erst in 2 monaten sentimental werden, falls überhaupt. Für mich aber war es das. Das letzte Spiel im Olympiastadion. Meine Trumpfkarte, die ich vor 20 Jahren ausgespielt hatte, um meine Gefährten für den Fuß zu begeistern. Zum letzten Mal. Beiße in die Bratwurst. Genieße das lezte Bier. Ich trinke es auf dem Sockel sitzend, in den einer der riesigen Zeltdachstützen einbetoniert ist. Dann erhebe ich mich, tätschele diesen Metallpfeiler fast zärtlich. Drehe noch eine Runde am oberen Rand der nicht überdachten Sitzreihen, schlendere bis zum höchsten Punkt. Ich blicke noch einmal auf das grüne Rasenviereck mit der weißen Spielfeldbegrenzung hinunter. Sehe imaginär den jungen Franz Beckenbauer vor meinem geistigen Auge. Bestaune, wie er elegant mit dem Ball an einigen Wupptertaler Verteidigern vorbeispaziert als seien sie Slalomstangen. Genauso wie auf dem Poster über meinem Bett zu Genesiszeiten! Ich beobachte Franz den Kopf hebend und Kontakt zu seinem Pendant suchend. Dann spielt er den tödlichen Pass in den freien Raum. Elegant und scheinbar ohne Kraftanstrengung. Einfach so, mit dem Außenrist. Und jeder im Stadion weiß, was nun geschieht, weiß, dass der Adressat den Ball blitzschnell aus der Drehung schießend in den Maschen versenken wird. Gerd Müller! Auf diesem Rasenviereck dort drunten. Hundertfach hat er es getan. In diesem Stadion. Mein letzter Blick nach unten. Ich wende mich ab, schaue jetzt nicht mehr zurück, lasse mich mit der Masse treiben, die nun den U-Bahnen zustrebt.
Servus Olympiastadion, du wirst mir fehlen.


Gerd Mersdorf


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