Klein Heidrun 


Es war einmal vor langer,langer Zeit, da lebte in einem Wald ein armer Köhler, genannt Clements, mit seiner Familie. Er hatte nur wenig Kohle in seinen Meilern, denn Bäume im Zauberwald lassen sich nur fällen, wenn sie es wollen, und das ist selten. Ein kleiner Garten, der fast so klein  wie das Haus des Clements war, versorgte die Familie mit etwas frischem Gemüse und im Winter reichte er geradeso um einen schmächtigen Schneemann zu bauen. Was die Köhlerfamilie hatte, reichte zum Leben, aber manchmal gingen sie hungrigen Magens zu Bett. Dafür herrschte Frieden im Wald und kein böser Mensch konnte ihnen etwas zuleide tun. Natürlich gab es auch Regeln im Zauberwald. Nach Einbruch der Nacht durften weder Clements, noch seine Frau und auch nicht seine beiden Kinder Klein Heidrun und Sebastian den Wald betreten. Diese Regel zu befolgen war nicht schwer, denn was sollte man schon  im Dunkeln im Wald suchen? Einmal aber wurde diese Regel  des Zauberwaldes gebrochen und das geschah aus folgendem Grund.
Clements hatte Glück gehabt. Es hatten sich mehr Bäume fällen lassen als erwartet. Lustig stieg der Rauch aus den Meilern und die Kohle versprach gut zu werden. Der Köhler besprach mit seiner Frau, was denn jetzt mit dem Geld aus dem Verkauf zu geschehen habe. Lang wurde beraten und vorgeschlagen und letztendlich wurde man sich einig. Klein Heidrun sollte ein paar neue Schuhe und  Sebastian eine neue Hose bekommen, ein paar Lebensmittel, wie Butter und Kaffee für die Eltern, und etwas zu Naschen für die Kinder, und der Rest des Geldes sollte als Notgroschen in den Sparstrumpf wandern. Nun gaben die Meiler des Clements aber so viel Kohle her, dass der Clements sie nicht alleine zum Verkauf auf den Markt bringen konnte. Seine Frau musste ihm helfen. Wie froh und wie traurig der Clements in einem Atemzug war. Zu gern hätte er seiner Frau die harte Tätigkeit erspart, zum Anderen würde der Erlös noch höher ausfallen als erwartet. Ausserdem war der Weg weit und man brauchte mehr als einen Tag dazu, was bedeutete, dass Sebastian  und Klein Heidrun über Nacht alleine im Zauberwald ohne ihre Eltern sein würden. Zwar waren die Kinder für ihr Alter sehr verständig und folgsam, aber sie waren nun mal Kinder. So kam es wie es kommen musste. Vater und Mutter machten sich beklommenen Herzens auf den Weg zum Markt, während die Kinder lustig  zum Abschied winkten. Dann machten sich die zwei Kleinen auf um Brombeeren zu sammeln. Einige der Beeren wanderten direkt in den Mund, aber die meisten der Brombeeren landeten im Korb, denn die Mutter wollte morgen nach der Rückkehr einen Kuchen backen. Fast waren sie mit der Suche fertig als Sebastian an den Stacheln einer unbekannten Pflanze hängen blieb und sich verletzte. Klein Heidrun half ihm sich von der Pflanze zu befreien und sorglos traten die Kinder ihren Rückweg an, denn es war später Nachmittag über der Suche geworden und vor Einbruch der Nacht mussten sie ja zu Hause sein. Daheim angekommen aßen sie ihr kärgliches Abendessen, dann vertrieben sie sich den Abend im Spiel. Sebastian wurde immer stiller und ernster. Klein Heidrun kannte ihren Bruder und je ruhiger der wurde, umso mehr schlich sich Angst in das Herz des kleinen Mädchens. Stets war Sebastian lustig und sein Mund schien nie still zu stehen, aber wenn er so ernst wurde, konnte er nur krank sein. Da schweifte ihr Blick auf den Arm des Bruders und ihr stockte der Atem. An der Wunde des Bruders zeigte sich ein blauer Strich der immer länger wurde. Sebastian hatte eine Blutvergiftung. Mutter und Vater waren fern und es war Nacht im  Zauberwald. Klein Heidrun wurde es angst und bange. Sie wusste das es im Wald eine Pflanze gab, die ihren Bruder wieder gesund machen konnte. Das Aussehen der Pflanze und ihr Standort waren ihr auch bekannt. Nur durfte sie das Haus nicht verlassen. Zudem war heute die Nacht des großen Wettstreites und überall im Walde sah man zwischen den Bäumen ein glühendes und gleißendes Licht. In dieser Nacht war das Verlassen des Hauses der schlimmste Verstoß gegen die Gesetze des Zauberwaldes und zudem am gefährlichsten, denn die Hexen und Zauberer, die Elfen und Zwerge, Gnome und Trolle, Gespenster und Alpträume würden zum Kampfe antreten, um in ihren Bereichen den furchtlosesten und tapfersten Helden, den besten Zauberer zu finden und ihn zu belohnen. Sebastian ahnte die Gedanken der Schwester und kurz bevor er in das Fieber fiel, erklärte er egal was mit ihm geschehe, Klein Heidrun habe das Haus nicht zu verlassen.  Ein Werwolf könne sie anfallen oder ein Drache sie zertreten. Sie könne in das Netz der riesigen Spinne Arachna gelangen und gefressen werden.
Arachna dachte in dieser Nacht aber nicht ans Essen. Sie war Gast bei  der Nacht des Wettstreites und voller Begeisterung feuerte sie gerade Elf Alfin an. Dieser befand sich im Kampf gegen den äußerst grimmigen und finster dreinblickenden Lindwurm Schlängerich. Alfin war war voller Konzentration. Er hob sein Schild, hielt so die Feuerzunge des Drachen auf Abstand und stach dann ins Herz des Schlängerichs. Mit einem Schrei, der den ganzen Wald durchdrang, und sogar die Träume des Sebastian erreichte, fiel der Lindwurm zu Boden. Flugs wurde er von der  Hexe Gudrun geheilt, und wieder genesen, gratulierte er dem Sieger Alfin. Nun standen sich die Hexe Gudrun und der Zauberer Gastus gegenüber. Beide schwangen die Zauberstäbe, Funken flogen wie bei einem Feurwerk und die Hexe wurde in eine wunderschöne Maid verwandelt.  Welch eine Schande für die Hexe. Hysterische Schreie hallten durch den Wald und die kleine Heidrun die gerade die Tür aufgemacht hatte, um doch in den Wald zu laufen, verschloss sie wieder hastig mit zitternden Händen und laut pochendem Herzen. Die Schande der Verwandlung brachte die Hexe so in Raserei, dass sie fürchterlichst fluchte und den schrecklichsten der ihr bekannten Zaubersprüche anwandte. Gastus wurde in einen strahlenden Jüngling verwandelt. Welch eine Strafe für den Zauberer. Nur ein alter Zauberer kennt alle Sprüche  und dem um viele Jahre verjüngten Gastus fiel nur noch ein einziger Spruch ein, welcher für sein Alter zwar interessant  war, aber für solch einen unerwarteten Ausgang des Kampfes sorgte, dass noch viele Generationen später über jenen Ausgang des Wettstreites berichteten. Es war ein Liebeszauber, für zwei Seiten, den für die eine Seite hatte er in diesem Alter noch nicht gelesen. So verließen unter größtem Beifall eine wunderschöne Maid und ein strahlender Jüngling den Kampfplatz. Innig verliebt und einander küssend waren die zwei größten Feinde des Waldes an jenem Abend vereint. Ein neuer Wettkampf ausgetragen zwischen Elf und Zwerg stand auf der Veranstaltungsliste. Zwergengold gegen Elfensilber. Schon wurden die Hämmer geschwungen und es hallte ein metallisches Klirren durch die Lüfte. Klein Heidrun horchte in die Nacht. Es war ja so viel Treiben im Walde. Vielleicht fiel sie ja gar nicht auf? Sebastian wurde immer schwächer, sprach im Fieberwahn und sie war die Einzige die ihm helfen konnte.  Ihr geliebter großer Bruder. Zu ihm ging sie, wenn ihr Kummer zu groß wurde und oft hatte er geduldig eine Puppe von ihr repariert oder ihr einen Schuh geflickt. Nein, sie konnte ihn nicht  so leiden sehen. Was auch immer ihrer da draußen harrte, sie musste ihm helfen. Sie trat in den Garten, doch kein Blitz traf sie, nur schreckliche Geräusche drangen zu ihr und ließen ihr fast das Blut in den Adern gefrieren. Leise ging sie weiter. Fledermäuse flogen an ihr vorbei und rieten zur Umkehr. Sie umkreisten sie, doch Klein Heidrun durchbrach den Kreis und rannte weiter. In der Ferne vernahm sie das Heulen der Werwölfe, aber zur Umkehr war es zu spät. Überall war ein Rascheln und Getuschel in den Büschen zu vernehmen. Eine Vielzahl von Stimmen schienen ihr etwas sagen zu wollen und überall sah sie schreckliche Gestalten und Gesichter, die sie ansahen. Voller Angst lief  Klein Heidrun weiter. Fast hatte sie es gepackt. Gleich hatte sie die Pflanze. Dort stand sie. Klein Heidrun brauchte nur ihre Hand auszustrecken und sie zu pflücken und dann schnell nach Hause. Doch was war das? Vor ihr stand ein Troll. Sie hatte noch nie einen Troll gesehen. Er war so häßlich! Seine lange Nase tropfte, sein Mund war riesengroß und viele Zähne standen kreuz und quer in seinem Kiefer. Er hatte riesige Füße und er verbreitete einen  Gestank wie nach Schwefel. Groß war er nicht, er war kleiner als Heidrun, aber er schrie, als er sie sah, und versteckte sich hinter ihrer Blume. Das kleine Mädchen schien wie versteinert. Ihr Blut dünkte ihr eiskalt und sie ging ganz langsam, um bloß nicht ohnmächtig zu werden. Das Herz von Klein Heidrun pochte so laut, dass sämtliche Elfen, Zwerge, Trolle, Gespenster, Hexen und Zauberer es hören konnten. Ganz leise erklärte sie den Gästen des Wettstreites sie brauche die Pflanze für ihren Bruder, er sei schwer erkrankt, läge im Sterben und ohne die Medizin wäre er verloren. Die Bewohner des Waldes lauschten still, und in die Stille des Schweigens sprach der Troll.
Er fällte dass Urteil, das Klein Heidrun das oberste Gesetz des Zauberwaldes gebrochen habe. Jedoch habe sie mit ihrem Heldenmut und ihrem Überwinden den Wettstreit der Nacht gewonnen. Nur der, der die Angst spüre, könne sie überwinden und ein Held sein, und nur der, der etwas verlieren könne, könne etwas gewinnen und siegen. Zwar seien alle Wesen des Waldes außer den Menschenkindern die Besten der Besten, doch sie habe in diese Nacht alle und sich selbst besiegt. Als Siegpreis solle sie drei Wünsche erfüllt bekommen. Klein Heidrun wünschte sich Gesundheit für die gesamte Familie, und besonders für den Sebastian. Weitere Wünsche hatte sie nicht und konnte auch keinen mehr äußern. Deshalb schenkte die Hexe Gudrun  ihr ein Brot, das niemals zuende ging. Der Zauberer Gastus gab ihr einen Krug mit Wein, der niemals leer wurde. Die Elfen und Zwerge beschenkten sie mit Gold und Silber. Der Gnom sprach einen Zauberspruch, dass die Meiler des Clements immer ergiebig sein sollten. Dann war sie alleine im Walde, alle Wesen waren verschwunden. Der Morgen tagte und müde machte sich Klein Heidrun auf den Rückweg. Sie erreichte ihr Zuhause und den schlafenden und vom Fieber genesenden Sebastian. Müde ging sie in ihr Bett und als sie wieder aufwachte, hätte sie schwören können, sie habe geträumt. Sebastian ging es genauso. Der Zauber des Vergessens war über die beiden ausgesprochen worden. So sehr sie überlegten, woher der Wein, das Brot, das Gold und Silber auch waren, sie wussten es nicht. Groß war die Freude der Eltern bei ihrer Heimkehr und sie feierten ein Fest der Geschenke. Hunger gab es nicht mehr, aber auch keine nächtlichen Ausflüge mehr in den Zauberwald. Die Wesen des Waldes blieben der Familie des Clements gutgesonnen und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.



                                                                                                                                                                                                                  Astrid Eifel-Gerber



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